4.2 Coming-out / Verbergen der eigenen geschlechtlichen Identität beziehungsweise sexuellen Orientierung

In einer heteronormativen Gesellschaft, in der LSBTTIQ* oftmals als andersartig wahrgenommen werden, stellt für viele Menschen ihr Coming-out eine einschneidende Lebensentscheidung und besondere Herausforderung dar. Manche Menschen warten deshalb viele Jahre, bis sie ihre sexuelle Orientierung beziehungsweise geschlechtliche Identität offen zeigen.

Wie sieht es unter den Befragten in Brandenburg aus? Der Vergleich zwischen verschiedenen Altersgruppen ergibt, dass im Laufe der Jahre die Zahl der queeren Brandenburger*innen, die sich geoutet haben, das heißt, die ihren Mitmenschen ihre sexuelle oder geschlechtliche Identität selbst offenbart haben, natürlicherweise steigt: Von den 16- bis 29-Jährigen sind 57 Prozent geoutet, die Befragten zwischen 30 und 45 Jahren sind es zu 77 und die über 45 Jährigen zu 85 Prozent. Im Umkehrschluss heißt dies aber auch, dass fast jede*r zweite Befragte unter 30 Gründe gegen und Sorge vor einem Outing hat, eine im Jahr 2017 noch überraschend hohe Zahl, die auch durch Befunde in Baden-Württemberg (40 Prozent der Befragten unter 30 sind nicht geoutet) gestützt wird.25

Die Umfrage zeigt auch, dass die lesbischen und schwulen Befragten zum überwiegenden Teil, nämlich zu jeweils etwa drei Vierteln, voll geoutet sind. Hingegen hat die Mehrheit der Trans* (54 Prozent) und Bisexuellen (59 Prozent) sich nur einem kleinen Teil der ihnen nahestehenden Menschen anvertraut. Dieselbe Beobachtung machten die Autor*innen der Umfrage in Baden-Württemberg.26

Etwa die Hälfte der Befragten in Brandenburg - unabhängig ihrer geschlechtlichen Identität oder sexuellen Orientierung - gibt an, dass sie unter 20 Jahre alt war, als sie sich das erste Mal gegenüber ihren Mitmenschen geöffnet hat.27 Schwule, Lesben und Bisexuelle sind bei ihrem Coming-out vergleichsweise jünger als die befragten Trans*. Es ist anzunehmen, dass das Coming-out für eine Trans*Person sehr viel schwieriger ist als für schwule, lesbische oder bisexuelle: Die Transition, die viele Trans* auf sich nehmen, führt unvermeidlich zu vielen Herausforderungen in allen Lebensbereichen. Zudem zeigt sich in der vorliegenden Online-Befragung für Brandenburg deutlich, dass Trans* tendenziell öfter von Diskriminierung betroffen sind - alles Gründe für ein späteres Coming-out.

Insgesamt zeigen 71 Prozent der Befragten ihre sexuelle Orientierung beziehungsweise geschlechtliche Identität offen. Der Stadt-Land-Vergleich in Brandenburg ergibt, dass Städter*innen etwas offener (75 Prozent) ihre lsbttiq*-Identität leben als queere Menschen, die im ländlichen Brandenburg wohnen (64 Prozent). Dieses Ergebnis ist absolut vergleichbar mit den Erkenntnissen aus Baden-Württemberg, wo die Sichtbarkeit ebenso mit zunehmender Wohnortgröße steigt und insgesamt 68 Prozent der baden-württembergischen LSBTTIQ*-Befragten offen leben.28 Im ebenso katholisch geprägten Rheinland-Pfalz scheint ein noch offenerer Umgang mit der eigenen sexuellen und geschlechtlichen Identität zu herrschen, da dort im Alltag 83 Prozent voll und ganz beziehungsweise weitgehend offen leben.29

Die Befragung zeigt auch, dass ein Coming-out keineswegs gleichzusetzen ist mit der Frage, wie offen man seine sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität im Alltag lebt. Immerhin jede*r vierte bis dritte schwule, lesbische und trans* Befragte zeigt sich nicht offen. Unter den Bisexuellen sind es sogar 41 Prozent - ein Hinweis darauf, dass Bisexualität im Alltag immer noch wenig sichtbar ist30 und in der politisch-gesellschaftlichen Diskussion oftmals neben Homo- und Transsexualität marginalisiert ist.

Die Gründe für das Verbergen der sexuellen Orientierung beziehungsweise einer Trans*Identität sind vielfältig und unterscheiden sich leicht je nach sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität. Die Hälfte der befragten Lesben in Brandenburg gibt an, dass sie ihre Orientierung nicht offen lebt, da sie gegen sie gerichtete negative Reaktionen befürchtet. Nur 17 Prozent der befragten Bisexuellen äußern derartige Ängste. Eher sorgen sich Bisexuelle um die ihnen nahestehenden Personen (mit 42 Prozent). Genauso viele stimmen der Aussage zu, dass ihre sexuelle Orientierung zu ihrer Privatsphäre gehöre. Dies bestätigen auch 44 Prozent der schwulen Befragten. Aber auch sie haben mit 41 Prozent die Befürchtung, das offene Bekenntnis zu ihrer sexuellen Orientierung mit Diskriminierung wie dem Verlust des Arbeitsplatzes zu bezahlen.31

Ein Viertel der Trans*-Personen behält aus Gründen der Privatsphäre ihre geschlechtliche Identität für sich, die restlichen befragten Trans* teilen sich in gleichen Teilen in die, die Angst vor eigenen negativen Erfahrungen und erwarteten negativen Konsequenzen für Freunde und Familie haben.

Der Vergleich nach Alter zeigt, dass mit zunehmendem Alter die Privatsphäre eine wichtige Komponente darstellt. Den 16- bis 29 Jährigen war sie zu 25 Prozent, den 30- bis 45-Jährigen zu 56 Prozent wichtig und ältere Befragte über 45 Jahre gaben zu 70 Prozent an, aus Gründen der Privatsphäre ihre sexuelle Orientierung beziehungsweise geschlechtliche Identität nicht offen zu leben.

Darüber hinaus geben die brandenburgischen Befragten auch in den offenen Antworten zur Frage, warum sie nicht offen leben, an, dass sie bereits Diskriminierungserfahrungen wie "Belustigung, Mitleid, Unverständnis" und "gerade im sozialen Umfeld" gemacht haben oder Angst davor haben, dass beispielsweise das "Kind im Kindergarten gemobbt wird". Dass diese Befürchtungen der LSBTTIQ* nicht unbegründet sind, offenbart sich auch in der aktuellen Befragung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) zur Einstellung der deutschen Bevölkerung gegenüber lesbischen, schwulen und bisexuellen Menschen in Deutschland. Etwa ein Viertel der repräsentativ Befragten gab an, dass sie es (eher/voll und ganz) unangemessen finden, wenn Menschen ihre Homosexualität öffentlich machen.32

 


25 Vgl. Lebenssituation von LSBTTIQ-Menschen in Baden-Württemberg, S. 19.
26 Vgl. Lebenssituation von LSBTTIQ-Menschen in Baden-Württemberg, S. 18. Hier sind es ebenfalls die bisexuellen Befragten, die prozentual am häufigsten gänzlich ungeoutet leben.
27 Die Befragung des Deutschen Jugendinstitut "Coming-out - und dann...?!" unter jugendlichen LSBTTIQ* zwischen 14 und 27 Jahren ermittelte ein durchschnittliches Alter für ein äußeres Outing unter Lesben, Schwulen, Bisexuellen und queeren Menschen von etwa 17 Jahren. Trans* und Genderqueere outen sich etwa anderthalb Jahre später. Während bei lesbischen, schwulen, bisexuellen oder queeren (in der Befragung "orientierungs*divers" genannten) Jugendlichen anderthalb bis drei Jahre zwischen dem inneren (Bewusstwerden der eigenen sexuellen Orientierung) und äußeren Coming-out liegen, dauert dies bei Trans* und genderqueeren (von den Autor*innen als gender*divers bezeichneten) Jugendlichen zwischen 3,5 und sieben Jahren. Vgl. Coming-out - und dann...?!, S. 15.
28 Vgl. Lebenssituation von LSBTTIQ-Menschen in Baden-Württemberg, S. 19.
29 Vgl. Lebenssituation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, Transgender und Intersexuellen in Rheinland-Pfalz, S. 27.
30 Was zum Teil auch daran liegen mag, dass Bisexuelle, die aktuell in einer gemischtgeschlechtlichen Beziehung leben, ohne explizites beziehungsweise verbalisiertes Coming-out nicht als solche zu erkennen sind.

31 In der baden-württembergischen Befragung überwog mit 57 Prozent Zustimmung noch stärker die Angst vor negativen Reaktionen. Vgl. Lebenssituation von LSBTTIQ-Menschen in Baden-Württemberg, S. 19.
32 Vgl. Küpper, Beate; Klocke, Ulrich; Hoffmann, Lena-Carlotta (2017): Einstellungen gegenüber lesbischen, schwulen und bisexuellen Menschen in Deutschland. Ergebnisse einer bevölkerungsrepräsentativen Umfrage. Hg. v. Antidiskriminierungsstelle des Bundes. S. 58. URL: http://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/Umfragen/Umfrage_Einstellungen_geg_lesb_schwulen_und_bisex_Menschen_DE.pdf?__blob=publicationFile&v=2.

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