6.6 Polizei und Justiz
Viele Studien zeigen, dass Lesben und Schwule, Bisexuelle, Trans*, Inter* und queere Menschen besonderen Diskriminierungen ausgesetzt sind - bis hin zu Gewaltsituationen. Das zeigt beispielsweise die 2017er-Erhebung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes sowie Studien der FRA, der Europäischen Agentur für Grundrechte.60 Für Brandenburg wurden im vorliegenden Fragebogen eine Reihe von Fragen zur Häufigkeit von Übergriffen auf LSBTTIQ*, die Anzeigequote bei der Polizei, Erfahrungen mit Polizei und Justiz sowie Hinderungsgründe bei der Anzeigenerstattung gestellt.
So hat jede*r sechste LSBTTIQ*-Befragte in Brandenburg nach eigenen Angaben innerhalb der vergangenen fünf Jahre Verbrechen oder Gewalt aufgrund der eigenen sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität erfahren, sei es physische, psychische oder sexuelle Gewalt. Damit liegt die Quote auf vergleichbarem Niveau mit den berichteten Übergriffen aus Baden-Württemberg, aber deutlich niedriger als unter den Befragten in Rheinland-Pfalz, was damit zusammenhängt, dass dort nicht nach den vergangenen fünf Jahren, sondern allgemeiner gefragt wurde.61
Unterschiede in der Anzahl der Angriffe im städtischen Raum versus auf dem Land sind nicht nennenswert. Ebenso wenig sind signifikante altersspezifische Unterschiede festzustellen – unter 30-Jährige werden gleichermaßen häufig beziehungsweise selten Opfer wie Mittvierziger oder Ältere. Dafür variieren die Zahlen stark zwischen Übergriffen aufgrund der sexuellen Orientierung versus aufgrund der geschlechtlichen Identität. Während lesbische, schwule und bisexuelle Befragte vergleichbar antworten – hier liegt die Gewaltexposition zwischen 13 Prozent und zehn Prozent der Befragten – ist jede*r zweite Trans* in den zurückliegenden fünf Jahren mit Verbrechen und Übergriffen auf die eigene Person konfrontiert gewesen. Hier ist ein hoher Handlungsbedarf in Brandenburg festzustellen, wie er auch in der rheinland-pfälzischen Befragung sichtbar wurde, wo 46 Prozent der Trans*-Befragten von Übergriffen berichteten.62 Warum in Baden-Württemberg mit 19 Prozent dagegen deutlich weniger Transsexuelle und Transgender nach eigenen Angaben Angriffen ausgesetzt waren, kann nicht dargestellt werden.63
Zur Bekämpfung homo-, bi- und transphober Gewaltverbrechen ist es besonders wichtig, dass entsprechende Vorfälle den Polizei- und Justizbehörden im Land gemeldet werden. Bei der Bevölkerungsgruppe der LSBTTIQ* ist die Anzeigebereitschaft allerdings sehr schwach ausgeprägt. Dies unterstreichen die in der Online-Befragung erhobenen Zahlen – und zeigen auch auf, wo Hinderungsgründe liegen und welche Lösungen sich anbieten.
Zunächst zur Anzeigenquote selbst: Gut zwei Drittel (68 Prozent) derjenigen, die ein Verbrechen oder eine Gewalttat in den vergangenen fünf Jahren erlebt haben, haben diese weder an die Justiz noch der Polizei gemeldet, ein Großteil der berichteten Straftaten gegen LSBTTIQ* sind damit gar nicht erst zu ahnden gewesen. Die genaue Anzeigequote liegt bei 32 Prozent. Nur 19 Prozent der Befragten haben ihre Anzeige bei der Polizei abgegeben, in weiteren 13,5 Prozent der Fälle ist zusätzlich die Justiz eingeschaltet worden. Zum Vergleich: In der rheinland-pfälzischen LSBTTIQ*-Befragung lag die Anzeigequote ebenfalls niedrig, bei knapp unter 25 Prozent, in Baden-Württemberg bei 35 Prozent.64
Erneut sticht die Gruppe der Trans*-Personen als speziell zu adressierende Zielgruppe hervor – unter den befragten Trans* ist die Anzeigebereitschaft äußerst niedrig. Bei den offenen Antworten auf die Frage, welche Erfahrungen sie mit der Polizei gemacht haben, geben Transgender und Transsexuelle konkrete Beispiele von Diskriminierung, wie der folgende Ausschnitt zeigt.
- "Bei der Polizei/Behörden werden Straftaten, die gegen mich als transsexuelle Frau stattfinden, meistens zwar aufgenommen, aber nicht verfolgt. Man wird dann auch gerne an queere Organisationen vermittelt…"
- "Beim Gerichtstermin zur Namensänderung wurde ich "begafft" vom Richter und dann kam eine Bemerkung: "ich sehe, es sitzt eine Frau vor mir"... - völlig überflüssiges Verfahren. Ich fand es entwürdigend."
- "Ich habe oft erlebt, dass Polizei mit Schwulen oder Trans nicht klarkommen."
- "Ich wurde von der Polizei nicht ernstgenommen als ich Anzeige wegen Körperverletzung erstatten wollte. Man hat mir dort gesagt, ich hätte durch mein Erscheinungsbild möglicherweise provoziert."
- "Bei Anzeigenerstattung wegen homophober Beleidigung wurde mir erklärt, ich müsse ja nicht offen auftreten und hätte die Situation dadurch selbst verursacht."
- "Strukturelle Formen von Gewalt gehören zum meinem täglichen "Programm", sehr massiv insbesondere bei Behörden, in Krankenhäusern, von Ärzt*innen, bei Gericht, seitens der Polizei (z.B. wurde eine Anzeige nach einem gewaltsamen Übergriff auf mich von dem Polizisten nicht aufgenommen und ich wurde allein zurückgelassen. Auch der Täter wurde nicht gesucht.)"
- "Polizeiliche Ignoranz gegenüber Gewaltanwendung in meinem eigenen Restaurant."
- "Bei öffentlichen Verkehrsmitteln bin ich bei bestimmten Personengruppen sehr vorsichtig und wechsele lieber das Abteil. Ich trage jetzt ein Pfefferspray bei mir."
Offene Antworten zur Frage "Haben Sie weitere Erfahrungen mit der Polizei/Justiz gemacht, die in der vorangegangenen Frage nicht aufgeführt waren?"
Die Gründe, die LSBTTIQ* in Brandenburg daran hindern, zur Polizei zu gehen, wurden im Fragebogen auch systematisch abgefragt. Zu den gewichtigsten Gründen, warum die betroffenen Befragten keine Anzeige erstattet haben, zählen praktische Erwägungen wie eine nachteilige Kosten-Nutzen-Rechnung beziehungsweise zu hoher Aufwand (92 Prozent der Befragten) bei der gleichzeitigen Sorge, die Ermittlungen würden nichts bringen (91 Prozent).
Zweitens liegt vielfach Angst vor persönlichen Konsequenzen vor, wie ein ungewolltes Coming-out (48 Prozent), erneute Repressalien durch die Täter*innen (52 Prozent) oder Scham aufgrund der erlittenen Tat (ebenfalls für 52 Prozent der Befragten, gerade auch bei der jüngsten Befragtengruppe, den unter 30-Jährigen mit 63 Prozent ein besonders häufiger Hinderungsgrund). Proaktive Zusicherung von Anonymität könnte helfen, diese Ängste zu nehmen.
Drittens hindern Wissenslücken und fehlende Informationen viele Betroffene an einer Anzeige: Gut die Hälfte der Befragten (52 Prozent insgesamt, im ländlichen Raum sogar 86 Prozent) gibt an, die Tat (vermeintlich) für strafrechtlich nicht relevant gehalten zu haben. Hier wäre eine verstärkte und zielgruppengerechte Aufklärung über persönliche Schutzrechte und Formen psychischer und physischer Gewalt gerade auch im Nahbereich angebracht. Des Weiteren geben 48 Prozent derjenigen, die keine Anzeige erstattet haben, als Hinderungsgrund an, dass ihnen keine geeignete Ansprechperson für Straftaten gegen LSBTTIQ* bekannt sei.65
Viertens besteht Misstrauen gegenüber der Polizei und Justiz selbst: Fast die Hälfte der Befragten (45 Prozent) befürchtete Diskriminierung durch die Polizei – mit 58 Prozent der Befragten überraschenderweise gerade in den größeren Städten besteht eine größere Sorge als auf dem Land (25 Prozent). Sogar 83 Prozent der Teilnehmer*innen hatten die Erwartung, von der Polizei nicht ernst genommen zu werden.
Gerade diese letztgenannten Hinderungsgründe sind für zukünftiges politisches, justizielles und polizeiliches Handeln besonders interessant. Kontrastieren wird diese Erwartungen von derjenigen, die keine Anzeige erstattet haben, doch überaus stark mit den real gemachten Aussagen der Gruppe, die Straftaten zur Anzeige gebracht und Erfahrungen bei der Bearbeitung ihres Falles bei der Brandenburgischen Polizei66 gemacht hat.
So stehen der Befürchtung, nicht ernst genommen zu werden (83 Prozent in der Gruppe der Nicht-Anzeigenden), eine gleich große Gruppe der Befragten mit Kontakt zur Polizei gegenüber, die den Eindruck hatten, ihre Erlebnisse seien dort von den Beamt*innen ernst genommen worden. Der Sorge, sogar durch die Polizei selbst diskriminiert zu werden, die von knapp der Hälfte der Befragten als Hinderungsgrund geäußert wurde, steht der Befund gegenüber, dass die Polizei die Fälle sachlich und kompetent bearbeitet habe (67 Prozent der Befragten mit angezeigter Straftat).
60 Vgl. Agentur der Europäischen Union für Grundrechte FRA (2014): EU LGBT Survey. European Union Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender Survey. Results at a Glance. Hg. v. Publication Office of the European Union. Luxemburg oder Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2013): LGBT-Erhebung in der EU. Erhebung unter Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen in der Europäischen Union. URL: http://fra.europa.eu/sites/default/files/eu-lgbt-survey-results-at-a-glance_de.pdf und Diskriminierungserfahrungen in Deutschland anhand der sexuellen Identität.
61 Vgl. Lebenssituation von LSBTTIQ-Menschen in Baden-Württemberg, S. 48 und Lebenssituation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, Transgender und Intersexuellen in Rheinland-Pfalz, S. 61.
62 Vgl. Lebenssituation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, Transgender und Intersexuellen in Rheinland-Pfalz, S. 61.
63 Vgl. Lebenssituation von LSBTTIQ-Menschen in Baden-Württemberg, S. 48.
64 Vgl. Lebenssituation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, Transgender und Intersexuellen in Rheinland-Pfalz, S. 61 und Lebenssituation von LSBTTIQ-Menschen in Baden-Württemberg, S. 48.
65 Eine spezielle Ansprechperson für LSBTTIQ* ist bei der Brandenburgischen Polizei unter anderem über das Internetangebot der Polizei Brandenburg zu finden: https://polizei.brandenburg.de/seite/ansprechpartner-fuergleichgeschlechtlic/270213
66 Ergebnisse zur der analogen Frage, welche Erfahrungen die Befragten bei der Bearbeitung ihres Falls mit der Justiz gemacht haben, sind aufgrund der geringen Fallzahlen (n = 4 bis 5) nicht ausreichend belastbar.